21. März 2025

"Aus Leonie wird Lio: 18-Jähriger ändert Geschlechtseintrag"

In unserem Offenen Brief zu dem Artikel "Aus Leonie wird Lio" bemängeln wir sexistische Klischees, Verharmlosung von Essstörungen und Risiken wie Brustbinden und fordern die Medien zu einer verantwortungsvollen und ausgewogenen Berichterstattung auf, die Mädchen und junge Frauen schützt. Der Brief richtet sich an den Landtag Baden-Württemberg, die Deutsche Presse Agentur, die Zeitschrift Der Stern, die Süddeutsche Zeitung und die Redaktionen der Weinheimer Nachrichten, der Odenwälder Zeitung und der Badische Zeitung

Betreff: Kritik an der Berichterstattung im Artikel „Aus Leonie wird Lio: 18-Jähriger ändert Geschlechtseintrag“

Sehr geehrte Damen und Herren,

als Aktionsgruppe für Frauenrechte "Was Ist Eine Frau?" sehen wir uns veranlasst, auf Ihren Artikel vom 17. März 2025 mit dem Titel „Aus Leonie wird Lio: 18-Jähriger ändert Geschlechtseintrag“ zu reagieren. Wir halten einige Formulierungen und die gesamte Berichterstattung für problematisch und verantwortungslos – insbesondere im Hinblick auf die Auswirkungen auf Mädchen und die gesellschaftliche Wahrnehmung von Weiblichkeit.

Unsere Kritik richtet sich nicht gegen die individuellen Erfahrungen oder Entscheidungen einzelner Personen, die in solchen Artikeln porträtiert werden. Vielmehr sehen wir Probleme in der medialen Darstellung dieser Themen, die schädliche Botschaften an ein vulnerables Publikum vermitteln. Wir möchten im Folgenden unsere Bedenken erläutern und aufzeigen, warum wir eine sensible, wissenschaftlich fundierte und verantwortungsvolle Berichterstattung für notwendig halten.

Rückgriff auf sexistische Klischees ohne kritische Reflexion

Ihr Artikel stellt wiederholt auf stereotype Vorstellungen von Mädchen ab, etwa durch die Betonung von Mädchenkleidern oder langen Haaren als vermeintliche Merkmale eines Mädchens. Feministinnen kämpfen seit Jahrzehnten dafür, dass Mädchen selbstbewusst solche Klischees – wie das Tragen von Röcken oder langes Haar – hinter sich lassen können, ohne dass ihre Weiblichkeit infrage gestellt wird. Ein Mädchen, das lieber Ritter spielt oder kurze Haare trägt, bleibt ein Mädchen. Diese Botschaft ist entscheidend, um die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung von Mädchen zu fördern.

Mädchen erleben leider heute noch Mobbing, wenn sie diesen durch Medien und Popkultur verstärkten Klischees nicht entsprechen. Sie werden gehänselt, „wie ein Junge“ auszusehen, was ihr Selbstwertgefühl nachhaltig schädigen kann. Ihre unkritische Darstellung solcher Stereotype verstärkt den Druck auf junge Mädchen, bestimmte äußere Merkmale erfüllen zu müssen, um als „echte“ Mädchen anerkannt zu werden. Eine reflektierte Berichterstattung hätte diesen Kontext einbeziehen müssen, um nicht rückwärtsgewandte Klischees zu zementieren.

Verharmlosung von Essstörungen und ihre Folgen

Besonders problematisch finden wir die völlig unkritische Erwähnung einer Essstörung in Ihrem Artikel. Studien belegen, dass Essstörungen – insbesondere bei jungen Mädchen – nicht nur individuelle, sondern auch soziale Ursachen haben. Die wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags haben im September 2024 die aktuelle Studienlage zur „sozialen Ansteckung“ sowie die Einflüsse sozialer Medien in Bezug auf Essstörungen zusammengestellt[1]. Studien des National Institute of Mental Health unterstreichen, dass insbesondere in der Pubertät der Druck, einem bestimmten Körperbild zu entsprechen, Essstörungen wie Magersucht begünstigt[2].Dieses Phänomen, auch bekannt als „Werther-Effekt“, verdeutlicht die Verantwortung der Medien.

Ihr Artikel erwähnt das extreme Hungern bis zum Ausbleiben der Periode ohne jeglichen Hinweis auf die Gefahren. Magersucht entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern hat tiefe psychologische Ursachen – etwa die Überforderung junger Mädchen mit ihrem sich rapide verändernden Körper in der Pubertät. Eine verantwortungsvolle Berichterstattung hätte auf die gesundheitlichen Risiken wie Unterernährung, Hormonstörungen oder langfristige Organschäden hingewiesen und den Zusammenhang mit gesellschaftlichem Druck thematisiert. Stattdessen wird dieses Verhalten unreflektiert als Teil einer Identitätsfindung dargestellt. Junge Leserinnen könnten ermutigt werden, selbstschädigendes Verhalten als legitime Antwort auf Unsicherheiten zu betrachten, anstatt Unterstützung zu suchen.

Selbstverletzendes Verhalten ohne Warnhinweise

Ein weiterer kritischer Punkt ist die Beschreibung des Brustbindens („Binding“), das ebenfalls ohne Warnung wiedergegeben wird. Das Abbinden der Brüste ist ein selbstverletzendes Verhalten mit erheblichen physischen Folgen. Medizinische Fachleute, etwa die American Academy of Pediatrics (2021)[3] warnen, dass regelmäßiges Binding zu Verformungen der Rippen und des Rückens, Atemschwierigkeiten und chronischen Schmerzen führen kann. Zudem erschwert es sportliche Betätigung, was die körperliche Gesundheit zusätzlich beeinträchtigt.

Psychologisch kann Binding eine bestehende körperdysmorphe Störung verstärken oder aufrechterhalten, indem es die Ablehnung des eigenen Körpers normalisiert. Ohne diese Risiken zu erwähnen, vermitteln Sie jungen Leserinnen ein trügerisches Bild und lassen sie im Unklaren über die Konsequenzen solcher Praktiken und stellen dies als Methode zur Bewältigung von Unwohlsein dar. Eine verantwortungsvolle Berichterstattung sollte diese Risiken benennen und Alternativen wie psychologische Unterstützung aufzeigen.

Verharmlosung invasiver Eingriffe wie Brustamputationen

Schließlich sehen wir die unkritische Darstellung medizinischer Eingriffe wie Hormongaben oder plastische Chirurgie als äußerst problematisch an. Diese werden häufig als selbstverständliche Lösungen präsentiert, ohne auf die Komplexität oder die zugrunde liegenden psychologischen und sozialen Faktoren hinzuweisen. Studien wie die von Littman (2018)[4] deuten darauf hin, dass die sogenannte „Gender-Dysphorie“ bei Mädchen in der Pubertät oft mit Einflüssen aus dem sozialen Umfeld oder psychischen Vorerkrankungen zusammenhängt. Gleichzeitig fehlen Langzeitdaten zu den Auswirkungen solcher Eingriffe.

Laut Cass-Review[5] - eine unabhängige Überprüfung der Genderidentitätsdienste für Kinder und Jugendliche des NHS in Großbritannien, hat sich die Zahl der Mädchen, die in der Pubertät ihren weiblichen Körper ablehnen und medizinische Eingriffe anstreben, in den letzten zehn Jahren vervielfacht. Häufig stehen dahinter nicht nur Identitätsfragen, sondern auch die Überforderung mit den körperlichen Veränderungen der Pubertät, verstärkt durch gesellschaftliche Schönheitsideale und medialen Druck.

Ihre Berichterstattung erweckt den Eindruck, dass medizinische Interventionen, wie die einnahme des männlichen Sexualhormons Testosteron, die einzige Antwort auf Unsicherheiten seien, ohne auf die Risiken und irreversiblen Folgen wie zum Beispiel Haarausfall, Bartwuchs, Veränderung der Stimme, Vergrößerung der Klitoris sowie Unfruchtbarkeit hinzuweisen. Eine ausgewogene Darstellung würde diese Aspekte beleuchten und die Notwendigkeit einer fundierten Aufklärung betonen.

Ein Plädoyer für verantwortungsvolle Berichterstattung

Wir bitten Sie, in Ihrer Berichterstattung künftig mehr Verantwortungsbewusstsein walten zu lassen und Warnungen auszusprechen, wo sie angebracht sind. Medien haben einen erheblichen Einfluss auf junge Menschen, insbesondere auf Mädchen, die mit Unsicherheiten über ihren Körper kämpfen. Eine verantwortungsvolle Berichterstattung würde Expertenmeinungen einbeziehen, gesundheitliche Risiken klar benennen und auf die psychologischen sowie sozialen Dimensionen solcher Themen eingehen.

Wir laden Sie herzlich zu einem Dialog ein, um gemeinsam Wege zu finden, wie die Berichterstattung verantwortungsvoller gestaltet werden kann. Unser Ziel ist es, Mädchen zu schützen und eine Diskussion anzuregen, die der Komplexität dieser Themen gerecht wird.

Mädchen verdienen es, in einer Welt aufzuwachsen, in der sie ihren Körper nicht als Fehler wahrnehmen.

Mit freundlichen Grüßen,
Aktionsgruppe "Was ist eine Frau?"

Der Artikel „Aus Leonie wird Lio: 18-Jähriger ändert Geschlechtseintrag“ wurde auf folgenden Websites veröffentlicht:

Landtag Baden-Württemberg:

https://www.landtag-bw.de/de/aktuelles/dpa-nachrichten/aus-leonie-wird-lio-18-jaehriger-aen dert-geschlechtseintrag-564042

Der Stern:

https://www.stern.de/gesellschaft/selbstbestimmungsgesetz--aus-der-18-jaehrigen-leonie-wir d-lio-35556946.html

Badische Zeitung:

https://www.badische-zeitung.de/aus-leonie-wird-lio-18-jaehriger-aendert-geschlechtseintrag

Süddeutsche Zeitung:

https://www.sueddeutsche.de/leben/selbstbestimmungsgesetz-aus-leonie-wird-lio-18-jaehrig er-aendert-geschlechtseintrag-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-250317-930-405713

Weinheimer Nachrichten Odenwälder Zeitung:

https://www.wnoz.de/nachrichten/baden-wuerttemberg-und-hessen/aus-leonie-wird-l io-18-jaehriger-aendert-geschlechtseintrag-637343.html


[1] https://www.bundestag.de/resource/blob/1030100/47b213fcb2e7f7b06af124854c1df211/WD-8-057-24-pdf.pdf

[2] https://www.nimh.nih.gov/health/topics/eating-disorders

[3] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33542145

[4] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30114286/

[5] https://webarchive.nationalarchives.gov.uk/ukgwa/20250310143933/https://cass.independent-review.uk/home/publications/final-report/

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